Unwort
Loslassen ist irgendwie unsexy, unattraktiv und unglaublich viel leichter gesagt als getan
Loslassen? Lieber nicht. Es klingt wie ein Wegweiser ins Unbekannte, raus aus der Komfortzone. Im freien Fall ins Nichts. Warum sollten wir das denn tun? Nur um uns vielleicht ein wenig leichter zu fühlen und das ist nicht sicher? Schließlich hat unser Festhalten an etwas ja einen Grund. Dieses Etwas ist vertraut. Eine Idee vielleicht, ein Gedanke, eine Vorstellung, ein Gefühl, eine Haltung, ein Ziel, ein Traum. Wir haben dieses Etwas schon länger bei uns, haben darin investiert, es genährt, gehätschelt und gepflegt und es zu einer starken Kraft in uns werden lassen. Irgendwie sind wir damit zusammengewachsen, es ist zu einem Teil von uns geworden, an den wir uns gewöhnt haben. Was macht es schon, wenn wir uns dadurch im Kreis drehen und nicht weiter vorankommen?
Hier kannst du den Text 🎧 anhören:
Auf Nummer Sicher
Die Aussicht, etwas loszulassen, scheint selbst wenn sie mit einem Heilsversprechen daherkommt einfach nicht wahnsinnig erstrebenswert. Wir wissen nicht, ob es wirklich gut wird, wenn wir unser Etwas loslassen. Möglicherweise wird es so sein. Aber sicher ist es nicht. Sicher ist das Vertraute, selbst wenn es uns schadet. Wer kann schon versprechen, dass unsere Lebensumstände sich zum Positiven wenden, wenn wir z.B. eine Sucht loslassen, die Idee von einem Menschen, den Geschmack von Zucker im Tee, ein unerreichbar gewordenes Ziel, eine Vorstellung von uns selbst oder auch einen Berg voller lieb gewonnener Kleidungsstücke.
Und irgendwann, wenn dieses Etwas dann unsere Lebensumstände allzu ungünstig beeinflusst, kommt oft der Punkt, an dem uns gesagt wird: „Du musst loslassen.“ Vielleicht sagen wir uns das auch selbst, und womöglich knurren wir sogar „jaaa ich weiß“, und gleichzeitig regt sich da ein Widerstand. Nein. Ich will nicht loslassen. Nicht die Zigarette, nicht den Geschmack vom Zucker, nicht die Idee von diesem Menschen und unserer gemeinsamen Zukunft und ganz bestimmt nicht diese Klamotten. Mehr ist das neue Mehr.
Und wenn es doch vernünftig wäre?
Was also tun, wenn der Organismus nach reiner Luft verlangt, der Körper den Zucker nicht mehr verträgt, die Traurigkeit um den Verlust der gemeinsamen Zukunft den Moment beherrscht oder die Anhäufung von Materiellem uns zu erdrücken droht und das Loslassen trotzdem so unerstrebenswert erscheint?
Es so annehmen, wie es ist, könnte ein guter erster Schritt sein. Damit ist nicht gemeint, zu resignieren oder nichts zu unternehmen. Aha, so ist das jetzt also. Ich hänge und halte (mich) an diesem oder jenem fest – falls es überhaupt so ist.
Wer abenteuerlustig drauf ist, könnte da allein oder mit einem vertrauten Menschen genauer hinschauen und dem ein wenig nachgehen. Dazu braucht es gar kein tiefes Graben in die Vergangenheit. Es geht ja immer um den jetzigen Moment. Welcher Gedanke ist da, der sich immer wieder in den Vordergrund spielt? Wozu ist das Festhalten gut? Und wenn es darauf keine Antwort gibt, dann ist das auch eine Antwort. Es ist jetzt so, wie es ist.
Muss ja nicht sein
Es annehmen bedeutet auch sich von dem „loslassen-Müssen“ zu entfernen. Das Wort Müssen weckt nämlich unseren rebellischen Geist, und ähnlich wie bei Kindern am Gegenteiltag könnte unsere Reaktion darauf in die genau andere Richtung gehen.
Indem wir es annehmen, wie es ist, die eigenen Gedanken und Gefühle beobachten, ohne zu bewerten oder zu urteilen, ohne etwas dagegen oder dafür zu unternehmen, werden wir uns dem bewusster. Dadurch schaffen wir Raum, um wählen zu können. Dadurch klebt auch nichts an uns, als könnten wir uns dagegen nichts tun. Wir können die Verantwortung für unsere Entscheidung übernehmen, weil wir eine Wahl treffen können.
Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass wir tatsächlich etwas festhalten, das uns nicht (mehr) dient, könnten wir auch ganz bewusst entscheiden, dass das (noch) so bleiben darf und dass wir auch jederzeit eine anderen Wahl treffen können. Zum Beispiel, den Griff unserer Festhalte-Hand um dieses Etwas zu lockern. Genauer hinzuschauen. Die Hand so weit zu öffnen, dass es für uns ok ist.
Es könnte auch sein, dass wir zunächst ein wenig ins Wanken geraten und uns gern mal zwischendurch festhalten. Und möglicherweise wird das eine Weile so gehen, bis wir feststellen, dass wir balancieren können. Das würde uns wahrscheinlich unfassbar freuen und neugierig machen auf das, was es da noch gibt. Und vielleicht würden wir dann gar nicht mehr darüber nachdenken, dass auf dem Wegweiser Loslassen steht. Wir würden einfach nur den Wegweiser sehen und uns an einem Weg erfreuen, der uns voranbringt.
💛
Die Autorin Petra Ouschan ist psychologische Beraterin, Kursbegleiterin und Supervisorin bei Zent und unsere hauseigene Spezialistin für schriftliches Coaching.
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